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Manuela-Kinzel-Verlag

Nächtliche Absolution.

   

LESEPROBE:
„Nächtliche Absolution“. In: Martin Luther – Aus dem Leben einer Legende. Burgenwelt Verlag Bremen 2016.
(…) „Du willst Gottes Gerechtigkeit ergründen?“
Die Wände des Dormitoriums, die vor seinen ans Dunkel gewöhnten Augen längst Gestalt angenommen hatten, weiteten sich ins Offene, Freie. Zugleich umschlossen ihn Räumlichkeiten, Gänge, Zimmer, durch die er sich bewegte … wie zwischen den Bäumen und Säulenruinen des Gartens. Und die Stimme, die zu ihm sprach, war eine männliche ebenso wie eine weibliche. Sie klang samtig verschleiert, gebietend, manchmal aber auch hell und klar wie die eines Kindes.
„Suchst du das Wesen Gottes zu ergründen?“
Johann von Staupitz wandte ihm sein fülliges Gesicht zu, das von der Neigung zu einem gewissen Wohlleben zeugte. Seine Augen ruhten mit so viel größerer, fast schwärmerischer Milde als die des Vaters auf Martin, seinem Schüler und Mitarbeiter.
„Höre: Kennst du den Triumph der Größe Gottes? Ist sie darin erkennbar, dass er die Welt erschaffen, überflutet, wieder getrocknet und neu belebt und die Geschlechter seines Bundes gelehrt hat, von Noah bis Davids Stamm? Wahrhaft groß sind diese Werke und Taten. Doch in allem und über allem steht seine Gerechtigkeit.“
„Die erwählt zwischen den Erlösten und den Verdammten.“
„Aber wie erwählt Gott? Nach den Taten, die unsere Augen sehen?“
„Er kennt einen jeden von Anbeginn, ehe seine Mutter ihn ins Leben setzt, und weiß um seine Bestimmung. So lehrt es Augustinus.“
Wieder sprach die sanfte, aber gebietende Frauenstimme zu ihm.
„Ist der Mensch – bist du – ausersehen zur Erlösung oder Verdammnis, so liegt dies dennoch nicht in der unergründlichen Allmacht Gottes allein. Er gibt dir die Möglichkeit, an seinem Heilsplan teilzuhaben, indem du seine Gerechtigkeit annimmst im Glauben.“
Hatte er sich eben noch in den Kreuzgewölben eines Hauses gewähnt – des Schwarzen Klosters zu Erfurt oder der Leucorea-Universität zu Wittenberg – so folgte er der Stimme nun schnellen Schrittes durch einen Garten, der sich auf unbestimmte Ferne in einer Hügellandschaft fortsetzte. Sommerwärme strich ihm über das Gesicht. Vögel schlüpften durch die Bäume. Der schmale Spiegel eines Gewässers glänzte zwischen den grünen Erhebungen im Abendlicht, ein langgestreckter See oder ein Fluss – die Elbe? Der Tiber? Der Jordan gar? Weit entfernt kettete sich eine Stadtmauer mit Wachtürmen auf eine Bergkulisse zu, über der goldrot angestrahlte Wolken am Dämmerhimmel schwebten.
Gelöst trieb Martin durch diese süße, volle Milde – freilich starrte ihm aus den Bodenschatten ein Schädel in mürber Mahnung entgegen. Wie riesiges Gebein ragten die Reste einer Säulenhalle in die Konvoluten ihres Giebelfelds hinauf. Nein – da öffneten sich die Flügel einer Kirchentür, verklebt mit Siegellackkrusten, an denen die üblichen geistlichen wie gerichtlichen Anschläge flatterten. Handgeschriebene Zettel, sogar ein Druck-Pamphlet überdeckten, überschrien und überschwatzten einander regelrecht wie tagsüber das Volk und die Messe lesenden Priester in der Kirche.
Die Gestalt, die aus dem Halbdunkel des Raumes trat und unter dem dreieckförmigen Tür-Fries auf ihn zu warten schien, strahlte eine seltsame Vertrautheit aus. Wo hatte er sie schon einmal gesehen – diese Gesichtszüge einer allmählich reiferen Frau, die sich noch einmal zu anderer, tieferer Anmut klärten als die knospende Jugend sie zeigte, diese milchig weißen Hände mit dem zarten Braunton? Unter einem hauchdünnen Schleier fiel das Haar der Römerin elegant gebündelt und doch in den Wellen seiner immer noch glänzend schwarzen Fülle auf die Schultern nieder. Ihre Augen blickten in ernster, aber auch träumerischer Klugheit unter eng zusammenstehenden Brauen hervor: dieselben Augen, die ihn aus der Sänfte des Kardinals angesehen hatten.
„Seid Ihr die Sünde?“ hörte Martin sich fragen.
„Ich bin, was du suchst, Mönch. Nenne mich die Sünde, nenne mich die Tugend. Peccata und Virtus. Beides kann dich weiter führen auf deiner Suche nach Gottes-Erkenntnis.“
„Der Glaube strebt nach Beweis“, antwortete Martin unter Rückbesinnung auf Thomas von Aquin. „Könnt Ihr mir sagen, was die Sünde ist und welcher Weg aus ihr heraus führt in die Gerechtigkeit vor Gott? Ist es denn gutes Handeln, heißt es, sich mit reinen Taten zu bedecken bis an die Ferse…“
„Seine Gerechtigkeit ist größer als alle Sünde und Schuld“, sagte der kleine, rot geschminkte Mund zwischen ersten Furchen, Speckfältchen und Unebenheiten der Wangenhaut, „denn er hat sich uns geoffenbart in der Gestalt seines Einen Sohnes und mit der Menschheit die Sünde angenommen. Aufgehoben hat sie der Sohn, als er sich zum einzigen und letzten Mal dem Tod ergab, und in Erlösung verwandelt für alle Menschen, denen er seinen Heiligen Geist gesandt hat.“
„Kann das sein… für alle? Wird er nicht nur die Gerechten vor sein Antlitz treten lassen, wie es die Kirche lehrt?“
Wellen der Erregung zogen durch Martins Blut. War es fleischliche Lust? Oder waren es prickelnde Schauer einer Wonne und eines Schmerzes, die seine Seele erfassten, ihn zu zerreißen und gleichzeitig zu heilen schienen, so als würde aller Schmutz von ihm abgeschmirgelt, als würde etwas in ihm zurecht gerückt und neu geordnet.
„Gerecht ist, wer da glaubt und sich aus dem Evangelium zu Gott bekennt, Martinus Luder. Dieser Glaube bedeutet die Freiheit, die er allen Menschen zugedacht hat. Siehe…“
Eine schmerzliche Sehnsucht und eine balsamische Süße strömten von Stirn, Augen und Lippen der Frau, aus der Teilung ihrer Brüste, die sich im eckigen Ausschnitt ihres Kleides und hinter dem fein gefältelten weißen Einsatz des Hemdes andeutete. Martin wollte in diese tröstende Lieblichkeit hinein sinken, da gingen ihm die Augen in neuem Staunen über: Rings um das Kirchenportal hob ein Wachsen, Blühen und Leuchten von Rosen an. Ein Gewebe aus Stachelranken spann sich an den Pilastern empor, die sie auch von hinten zu umwachsen schienen, überkleidete das Tympanon und wölbte einen Bogen tiefroter Blüten über die geheimnisvoll lächelnde Gestalt. (…)